Je größer der Druck umso besser die Performance. In einer mehrfach ausverkauften Leipziger Messehalle machte sich Nils Dunkel zu dem Turnstar, der in Leipzig an jeder Straßenbahnhaltestelle angekündigt wurde. Denn Nils Dunkel war das Gesicht der EM – im Vorfeld auf Plakaten und spätestens mit dem EM-Titel in allen Medien.

Die Überraschung für Insider ist dabei, dass er diesen Titel nicht an „seinem“ Pauschenpferd holte, sondern an Deutschlands derzeitigem Lieblingsgerät, dem Barren.

Dabei fing die Wettkampfvorbereitung im Januar denkbar ungünstig an. Eine seit langem plagende Ellenbogenentzündung machte unserem MTV-Turner zu schaffen. Trotz der zahlreichen und oftmals auch schmerzhaften therapeutischen Behandlungen hinderte sie Nils derart am Aufbautraining, dass er im Februar nicht einmal einen Liegestütz turnen konnte. Er unterbrach das Training, verzichtete auf seinen ersten Weltcupeinsatz in Cottbus und legte eine Behandlungspause ein. Ab da ging es steil bergauf. Beim DTB-Pokal in Stuttgart deutete sich eine steigende Formkurve an. Den Einzug ins Pauschenpferdfinale verpasste er nur wegen eines rutschigen Pauschenpferdkörpers. Der nächste große Test beim Weltcup in Kairo Mitte April brachte überraschende Erkenntnisse. Ein Einzug ins Bodenfinale und Reckfinale – zwei eigentlich schwächere Geräte – dokumentierten eine gute Mehrkampffähigkeit. Aber auch die Erkenntnis, dass sich am Pauschenpferd international eine Gruppe von reinen Spezialisten entwickelte, bei der Nils für sich nur schwindende Finalchancen sah. Die salopp gemeinte Äußerung „dann werde ich eben Barrenspezialist“ sollte Wochen später eine ungeahnte Geschichte schreiben. Die erste EM-Quali konnte Nils mit Bravour meistern. Eine Woche später deutete sich etwas an: Beim Weltcup in Warna lächelte er auf dem zweiten Podestplatz in die Kameras – am Barren!

Die EM in Leipzig startete dann mit einem Paukenschlag: Die Frauen holten ihr erstes Mannschaftssilber in der Geschichte. Was für eine Leistung und was für eine Vorgabe für das Männerteam. Dieses musste auf die verletzten Pascal Brendel und Lukas Kochan verzichten. Starke Leistungen wurden daher eher von anderen Teams erwartet. Ein im Nachgang mit Superlativen bezeichneter Mannschaftsdurchgang, bescherte dem Team nicht nur einen vierten Platz – denkbar knapp hinter Platz 3. Fünf Einzelfinals und die Quali für den erstmals ausgetragenen Team-Mixed-Wettkampf waren deutlich mehr als die Vorgabe des Bundestrainers. Mit einer taktischen Meisterleistung, einer weiteren Leistungssteigerung und hervorragenden Übungen gewann Deutschland in der Besetzung mit Karina Schönmaier und Timo Eder die erste EM- Goldmedaille im Team-Mixed. Und das vor den hoch gehandelten Teams aus Großbritannien, Italien und Frankreich.

Einen Rückschlag gab es mit der Knieverletzung von Helen Kevric im Mehrkampffinale. Die Qualifikationsbeste am Stufenbarren und Medaillenkandidatin im Mehrkampf konnte ihren Wettkampf nicht zu Ende bringen.

Am späten Abend startete dann der Mehrkampf für Nils Dunkel und Timo Eder. Mit Platz 8 und 9 aus der Quali und nur einem geringen Abstand zu den Spitzenplätzen war zum einen das Teilnehmerfeld leistungsmäßig sehr ausgeglichen. Zum anderen gab das natürlich Raum für Spekulationen für Deutschlands Mehrkämpfer. Nils turnte den Wettkampf seines Lebens. Er startete am Pauschenpferd mit einer grandiosen Kür. 14,10 Punkte hätte zwei Tage zuvor den Einzug in das Pferdfinale bedeutet. An dem Tag sollte auch kein anderer Sportler mehr diesen Wert toppen. Nach 13,50 Punkten an den Ringen hieß es Ruhe bewahren. Die Halle tobte beim Zwischenstand. Platz 1 für Nils. Aber es kamen noch die eher schwächeren Geräte. Am Sprung war nicht viel mehr als 13,266 möglich. Dann der Barren. Sein Finalgerät. Eine starke Übung. Kaum ein Wackler. 5.000 Zuschauer hielten beim Handstand vor dem Abgang den Atem an. Steht er den Abgang? Leider nein. Der Ausfallschritt kostete ihm vier Zehntelpunkte und am Ende die nie für mögliche gehaltene Mehrkampfmedaille. 13,733 ist trotzdem eine starke Vorstellung. Auch am Reck kam er gut durch die Übung. 12,733 war „in Ordnung“, insgeheim hätte es aber etwas mehr sein können. Dann Boden. Nils hat hier einen eher geringen Ausgangswert. Der Fokus liegt daher auf guten Landungen. Die Geräuschkulisse ist unerträglich. Im Nachgang meinte Nils, dass die Stimmung auf der Wettkampffläche noch deutlich lauter war als auf den Zuschauerrängen. Doch genau diese Stimmung pusht Nils. Mit einer E- Note (Abzüge) von 8,70 sollte er zum drittbesten Turner an diesem Gerät avancieren. 13,60 Punkte ist die höchste Wertung am Boden, die er jemals erreicht hat. Nils hat geliefert! Das Ergebnis: Platz 5 im Mehrkampf! Nur 0,232 Punkte hinter dem dritten Platz. Mehr Freude oder mehr Leid? Nils sah das ähnlich. Ein lachendes und ein weinendes Auge. Wir erinnern uns: Die Landung am Barren. Trotzdem Wahnsinn! Aber: Insgeheim wollte Nils zur Heim-EM in Leipzig seinen Erfolg von München wiederholen und eine Medaille gewinnen. Eine Chance hatte er noch.

In den Gerätefinals konnte unsere große Turnfestdelegation am ersten Finaltag Karina Schönmaiers Sieg am Sprung feiern. Wieder eine grandiose Leistung für das deutsche Team. Wir konnten am Pauschenpferd aber auch erkennen, was ein Sportler erreichen kann, wenn er sich nur auf ein Gerät spezialisiert. In der Schwierigkeit kann Nils hier klar mithalten. In der Ausführung muss Deutschlands bester Pferdturner jedoch Abstriche hinnehmen. Die Eleganz und Hüftstreckung, welche die Kampfrichter sehen wollen, ist mit seiner „Mehrkampffigur“ nicht zu erreichen.

Am zweiten Finaltag starteten Nils Dunkel und Timo Eder am Barren, Andreas Toba am Reck. Wieder eine ausverkaufte Halle. Nils ging als Vierter an das Gerät. Wieder eine starke Übung. Der Abgang sollte alles entscheiden. Ein kleiner Hüpfer. Werden diese zwei Zehntel am Ende fehlen? 13,90 ist noch einmal eine Steigerung. Es ist die schwierigste Übung aller Finalisten (5,3). Die Konkurrenz musste auf volles Risiko gehen – und biss sich an der Übung von Nils die Zähne aus. Unglaublich! Es war nicht nur die ersehnte EM-Medaille. Es ist der Titel! Für immer und ewig – Europameister. Was für eine Geschichte. Alle, die Nils in den letzten 28 Jahren begleitet haben, werden schmunzeln. Der kleine Dreikäsehoch, der in der Turnhalle groß geworden ist, der am Barren das Laufen gelernt hat, der dann mit neun Jahren seinen eigenen Weg gegangen ist und auszog um das Turnen zu lernen, hat nach zwei Olympiateilnahmen, einem siebten Platz bei der WM in Antwerpen, einer Bronzemedaille bei der EM in München und weiteren starken Finalleistungen nun einen weiteren Höhepunkt erreicht. Was soll da noch kommen?

Stephan Dunkel

 

 

 

 

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